Das Holz spricht – „Eine Geschichte zum Erinnern“

2021-04-04 18:04:00 / BLOG / Kommentare 0
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Nierenhof, November 2015.

Man muss über diesen an Essen grenzenden Stadtteil von Velbert nicht viele Worte verlieren. Ein Bach durchfließt den Ort, drei Straßen treffen im Ortskern aufeinander und durchtrennen ihn. Ein Möbelhaus hat sich im Laufe der Jahrzehnte immer weiter ausgedehnt, sonst gibt es hier am nördlichen Rand des Bergischen Landes nicht viel zu sehen und zu erleben.

Wirklich nicht? 
Eher zufällig bin ich auf ein Geschäft gestoßen, klein und unscheinbar an der Bonsfelder Straße, das meine Neugier vor einiger Zeit doch geweckt hatte. Eine kleine Weihnachtsgeschichte, vor drei Jahren in der Edition Schmitz erschienen war der Auslöser. »You'll Never Walk Alone« hieß sie, und in ihr ging es um einen kleinen einarmigen Erzgebirgsengel, der den Lauf der letzten hundert Jahre auf ziemlich wundersame Weise einigermaßen schadlos überstanden hatte, sieht man einmal von dem fehlenden Arm ab. Der Engel hatte sich arrangiert. Ich hatte erst in diesem Winter gemerkt, wie groß die Liebe vieler Menschen zu Erzgebirgskunst ist. Häufig wurden wir auf die Geschichte angesprochen, eigene Geschichten wurden mir erzählt, der ortsansässige Geschenkehändler, der Einzige am Ort, der ein kleines Sortiment Engel führte, verstand nicht, warum die Nachfrage so sprunghaft anstieg und irgendwann bekam ich eben den Tipp von einem kleinen Laden im nahen Nierenhof, der auf Kunst aus dem Erzgebirge spezialisiert ist.

Ich fuhr hin.
Beim ersten Mal bin ich daran vorbeigefahren, liegt das Geschäft doch gleich im Bereich der stark befahrenen T‐Kreuzung, da schweift das Autofahrer‐Auge einfach nicht ab. Danach passte ich besser auf. Die Tür knarzte, im Inneren des kleinen Ladens ertönte eine leise Glocke, die mein Kommen ankündigte. Einen Moment lang war ich allein und suchte einen Ruhepunkt für meine Augen. Keine Chance. Der ganze Laden war vollgestellt mit Kunst aus dem Erzgebirge. Engel, wohin ich auch schaute, Nussknacker, Krippen, die berühmten Schwibbögen und Weihnachtspyramiden, große, kleine, einfache und äußerst filigran gearbeitete Stücke. Aus dem hinteren Bereich des Geschäftes kam eine ältere Dame zu mir und begrüßte mich herzlich. Sie hatte mich erwartet, stellte Kaffee und ein wenig Gebäck auf den Tresen. Brigitte Schmidt und ihr Mann Horst betreiben dieses Geschäft seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Angefangen, so erzählt sie, hätten sie 1962 in Hattingen mit einer Reinigung. Und weil sie es in der Vorweihnachtszeit dort ein wenig schick machen wollte, habe sie eben aus ihrem Privatbestand Erzgebirgsfiguren mitgebracht und das Schaufenster damit dekoriert. Dutzende Male hätte sie die Sachen verkaufen können, aber »es waren doch meine eigenen, die wollte ich nicht abgeben.« Die Idee, ein kleines Unternehmen aufzubauen, mit einer sowieso schon lang gepflegten Leidenschaft, ließ die Schmidts dann allerdings nicht mehr los.

Einmal, nach zehn Jahren, bezogen sie einen neuen Standort (eben den in Nierenhof). Als sich das Reinigungsgeschäft nicht mehr lohnte, verkaufte man fortan Kunsthandwerk aus dem Erzgebirge in vieltausendfacher Form. »Wir haben klein angefangen damals und es war gar nicht so leicht an Ware zu kommen«, erzählt Frau Schmidt. »Schließlich kamen die ganzen Sachen ja aus der ehemaligen DDR. Hier in Westdeutschland fanden wir gerade einmal vier Großhändler, bei denen wir einkaufen konnten. Und das auch nicht nach Belieben: die damals schon bekannte Marke Wendt & Kühn wurde stark reglementiert. Lediglich 10% der jeweiligen Auftragssumme durfte für den Marktführer ausgegeben werden.«

Unter Kennern ziemlich angesagt!
Natürlich hatte das auch einen großen Vorteil, denn nach und nach lernte Familie Schmidt all die anderen kleinen bis kleinst Betriebe im Erzgebirge kennen, denn – das ist ihnen wichtig zu erzählen – die guten Sachen kamen eben nicht nur vom Marktführer Wendt & Kühn, es gab auch Hunderte andere Hersteller, meistens Familien‐ Unternehmen, die in mühevoller Handarbeit allerschönstes Kunsthandwerk fertigten. Wie viele Lieferanten sie denn heute hätten, frage ich mit Blick auf die gefüllten Regale. »Was meinst du?«, fragt Brigitte Schmidt ihre Tochter Heike, die schon seit vielen Jahren ihre Eltern im Laden unterstützt. »Fünfhundert werden es wohl sein!« Fünfhundert zum Teil allerkleinste Handwerksbetriebe – es ist kein Wunder, dass die »Geschenk-Truhe«, so heißt dieser kleine Laden, unter Kennern ziemlich angesagt ist. Jede Ware, die geliefert wird, jedes einzelne Stück, wird genauestens unter die Lupe genommen. »Das sind wir unseren Kunden einfach schuldig!«, sagt Frau Schmidt. Die alte Dame kann nicht nur Massenware aus China (da sieht eine Figur wie die andere aus) von Erzgebirgshandwerk unterscheiden, sie erkennt auch den Stil und die Handschrift einzelner Handwerker.

Da ich ungläubig schaue, zeigt sie mir zwei identisch aussehende Hirten, bei denen man nur in kleinsten Details die Handarbeit erkennen kann oder sie nimmt (fast zärtlich) eine Figur in die Hand und erklärt mir ein sehr aufwändig hergestelltes Detail, nämlich die filigran gearbeiteten Flachshaare. Dann lacht sie: »Stellen Sie sich vor, zu uns kam vor Jahren ein Chinese in den Laden, der genauso radebrechendes Englisch sprach wie wir. Der fragte die ganze Zeit nach chinesischen Waren. Erst als wir ihm glaubhaft machen konnten, dass wir keine führten, nickte er zufrieden. Der wollte nämlich auch keine.«

Wie lange noch?
Es ist verkaufsoffen an diesem Sonntag und bis Weihnachten ist es noch ein wenig hin. Vor Weihnachten seien sie aber sowieso auch jeden Sonntag im Laden, da könne man in Ruhe räumen. Die Leute, die vereinzelt ins Geschäft kommen, sind seltene, aber regelmäßige Gäste. Heute wollen sie sich in erster Linie nach dem Befinden erkundigen. »Hallo! Ist alles gesund bei Ihnen?« »Ja, geht noch«, antwortet Frau Schmidt. »Und? Bei ihrem Mann auch?« Die Nachfragen sind mehr als berechtigt. Brigitte Schmidt ist 76 Jahre alt, ihr Mann Horst, der den ganzen Nachmittag im hinteren Teil des Ladens arbeitet und sich nur manchmal mit Zwischenrufen zu Wort meldet, wird im kommenden Frühjahr 83. Die Frage ist etwas despektierlich, ich stelle sie trotzdem: »Wie lange möchten Sie noch weiter machen?« »Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall so lange wie es geht. Aber sehen sie uns doch an, es hält doch jung.« Auch der Kopf scheint jung geblieben zu sein. Ein Warenwirtschaftssystem braucht Frau Schmidt auf jeden Fall nicht, wie Tochter Heike mir verrät: »Wir haben etwa 4.000 Artikel am Lager und Mama kennt sie alle – auch ohne Computer.« Aber ins Lager dürfte ich selbstverständlich nicht, das sei das Heiligtum der Mutter. Nur sie wisse, wo alles steht. Sie hat den Überblick. Wenn auch heute schon das Internet als Hilfsmittel herangezogen wird und ebenfalls per Mail bestellt wird, ist doch das Bauchgefühl der Schmidts der richtige Gradmesser, um die passende Ware zu finden und zu ordern.

Five‐String‐Banjo
Ich nutze ein kleines Kundengespräch, um mich weiter im Verkaufsraum umzusehen. Hunderte, aberhunderte Engel stehen in Alten Vitrinen und warten auf neue Besitzer. Alle liebevoll gearbeitet. Als alter Straßenmusikant entdecke ich einen kleinen Engel mit einem umgehängten Banjo. Auch hier kannte sich jemand genauestens aus. Gefertigt wurde nicht das viersaitige Tenorbanjo, sondern das amerikanische Five‐String‐Banjo mit der halben Saite am Hals. Mein Blick fällt auf eine Weihnachtspyramide, die hoch oben auf einem Regal steht, reich verziert, teilweise mit Blattgold überzogen. »Das ist eines meiner liebsten Stücke«, gesteht Frau Schmidt. »Da wurde ein ganzes Jahr dran gearbeitet und die Vorlage stammt von 1860.«

Sie nimmt eine weitere Krippenfigur fast ehrfürchtig in die Hand und zeigt sie mir. »Das Holz spricht zu mir. Ist das nicht schön, es spricht zu mir.«

Gekürzt.
Verfasst von Thomas Schmitz
von schmitz. die buchhandlung, Grafenstraße 44, 45239 Essen-Werden

Geschenk-Truhe Erzgebirgische Holzkunst
Seit 2016 am neuen Standort in 45257 Essen-Kupferdreh, Kupferdreher Str. 178


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